Eine Zusammenfassung aus einem Vortrag von Regina Ille-Kopp bei der Monatsrunde des Geschichtsvereins Bietigheim-Bissingen am 8.10.2003
„Seine Königliche Majestät haben durch höchste Entschließung vom 13. dieses Monats den Bauplan für die Eisenbahn=Verbindung zwischen Ludwigsburg, Stuttgart, Cannstadt und Esslingen, so wie solcher von Oberbaurath Etzel neuerlich bearbeitet und von der Königl. Eisenbahn=Commission gut geheißen worden ist, gnädigst genehmigt und den Unterzeichneten angewiesen, dafür Sorge zu tragen, daß nunmehr in Folge des genehmigten Planes unverweilt an die Vornahme der Expropriation und der übrigen einleitenden Geschäfte geschritten werde, damit in möglichst kurzer Zeitfrist mit der Ausführung des eigentlichen Bauwerkes begonnen werden könne. .....“ .
Diese Verlautbarung richtete der Minister des Innern, Dr. Johannes von Schlayer, im Jahr 1844 „An die Königliche Eisenbahn-Commission“. Mit Dr. Johannes von Schlayer hatte das Eisenbahnwesen in Württemberg vorerst den richtigen Mann an der richtigen Stelle, denn er kannte Friedrich List, den württembergische Vordenker der Eisenbahnidee aus Studienzeiten in Tübingen und pflegte einen regen Gedankenaustausch mit ihn. Wie List war von Schlayer klarer Befürworter des Eisenbahnbaus in Württemberg und hielt mit seinen Ansichten nicht hinter dem Berg. So war für ihn sicher ein lange gehegter Wunsch in Erfüllung gegangen, als er diese vorhin zitierte Erklärung abgeben konnte. Der königliche Startschuss für die Einführung der Eisenbahn in Württemberg damit erteilt. Die konsequente Umsetzung dieser Planungen im Land schloss wenige Jahre später die Errichtung des Bietigheimer Enzviadukt ein.
Anfang der 1830er Jahre hatte unter anderem das Drängen des Nationalökonomen Friedrich List zur Gründung einer Expertenkommission in Württemberg geführt, die nach Reisen ins europäische Ausland 1834 ein klares Votum für die Eisenbahn abgab. Diese Einschätzung teilte auch der Artikel „Eisenbahnen“ im „Allgemeinen deutschen Conversations-Lexicon für die Gebildeten eines jeden Standes“ aus dem gleichen Jahr: „Die Kunststraßen mit eisernen Schienen haben den englischen und nordamerikanischen Verkehr auf das Unglaublichste gehoben und scheinen in der jüngsten Zeit bei Anwendung der Dampfwagen dem gesammten Völkerhandel wo nicht eine andere Richtung, doch einen unübersehbaren Aufschwung geben zu wollen.“
Hier im Land war damit die ursprünglich angedachte Anlage einer Kanalverbindung zwischen Rhein und Donau vom Tisch. Terrainuntersuchungen und erste Planungen, Fachbücher und Ausätze führender Ingenieure markierten die Jahre danach. Schnell zeigte sich, dass der Bau der Eisenbahnstrecken in Württemberg mit gewaltigen und noch nie da gewesenen Eingriffen in die Natur verbunden sein und für die Beteiligten enorme Herausforderungen darstellen würde.
Carl Etzel hatte sich in seiner 1839 veröffentlichten Denkschrift „Die Notwendigkeit und Durchführbarkeit einer Eisenbahn durch Württemberg“ für diese Planungen empfohlen.
Eine landesweit angelegte Verkehrsstudie aus dem Jahr 1836 quantifizierte Personen- und Güterströme und zeichnete die aktuelle Verkehrssituation nach, die ohne die Einführung der Eisenbahn schnell kollabiert wäre (1).
Parallel regten sich wirtschaftliche interessierte Kräfte in Württemberg. Eisenbahngesellschaften, erst lokal an Ulm und Stuttgart gebunden, entstanden schon 1835. Bereits ein Jahr später fusionierten sie zur „Württembergischen Eisenbahngesellschaft“.
Von Seiten des Gesetzgebers wurde das Nötige getan: am 18. April 1843 war das württembergische Eisenbahngesetz verabschiedet worden. Es ist belegt, dass der württembergische Innenminister von Schlayer dafür gesorgt hatte, eine auf seine Bitte von Friedrich List angefertigte Skizze über den möglichen Eisenbahnbau in Württemberg in diesem Gesetz einzubinden. Entscheidende Aussage dieses Gesetzes war es, dass nur die Hauptbahnen in Württemberg auf Staatskosten zu bauen seien, die Nebenstrecken privaten Investoren zu überlassen wären.
Trotz dieser Einschränkung muss die Entscheidung für den Eisenbahnbau in Württemberg als weitblickend und staatspolitisch sehr bedeutsam eingeschätzt werden. Wirtschaftlich standen die Zeichen im Ländle nicht gut, weder Bodenschätze noch besondere Messen ließen vermuten, dass die Bahn schnell hohe Gewinne abwerfen würde – also eine eindeutige Investition in die Zukunft. Schon zwei Monate später erfolgte konsequenterweise der nächste Schritt: die Eisenbahnkommission wurde zur unabhängigen Zentralbehörde erklärt.
All diese Schritte mündeten in die vorher zitierte königliche Genehmigung. Der Bau der sogenannten „Zentralbahn“, dem Filetstück der Nordbahn, begann und bereits am 22. Oktober 1845 konnte der erste Streckenabschnitt zwischen Cannstatt und Untertürkheim in Betrieb genommen werden.
Schnell war den Württembergern klar, dass der Streckenbau allein nur die halbe Miete war und so holte man einen der wenigen Maschinenbauprofis Süddeutschlands, den Karlsruher Maschinenfabrikanten Emil Kessler 1846 ins Ländle. Unter seiner Regie und der seiner Nachfolger verließen 3312 Loks die Esslinger Maschinenfabrik. 858 blieben bei der württembergischen Staatsbahn.
Im weiteren Verlauf der Nordbahn über Kornwestheim und Ludwigsburg war auch für Bietigheim ein Haltepunkt geplant. 1846 erreichte der Streckenausbau Ludwigsburg und damit näherte sich die Bahn der Bietigheimer Markung. Hier müssen wir die Reaktionen der Bietigheimer genauer unter die Lupe nehmen. Sie waren nicht begeistert, einen Bahnhof außerhalb der Stadt auf der Höhe (220 m) zu bekommen. Und gar eine finanzielle Beteiligung an der Großinvestition Bahnlinie kam für die Bietigheimer im Unterschied zu den Ludwigsburgern kaum in Frage.
Auch ging die Befürchtung in der Stadt um, das neue Verkehrsmittel vernichte Arbeitsplätze. Belegt ist dagegen, etwa im „Wochenblatt aus Besigheim“ vom 5. Oktober 1847, dass in Bietigheim „... zur Vollendung der Erdarbeiten auf der Eisenbahnlinie dahier gute Arbeiter wie auch Steinschläger Beschäftigung gegen guten Lohn finden.“
Aller Vorbehalte zum Trotz: der Bahnhof, damals bei und noch längst nicht in Bietigheim, wurde errichtet und im Herbst 1847 die Verbindung Bietigheim-Ludwigsburg eröffnet. Schrittweise freundeten sich die Bietigheimer mit dem neuen Verkehrsmittel an, ermöglichte es ihnen doch eine noch nie gekannte Mobilität. Dreimal täglich nach Stuttgart und zurück für Preise zwischen 54 und 21 Kreuzern bedeutete neue viele Chancen.
Zügig schritt der Streckenausbau voran und am 25. Juli 1848 war mit Heilbronn der vorläufige Endbahnhof der Nordbahntrasse erreicht. In der ehemaligen Reichsstadt waren sich die Stadtväter schnell klar, dass ein weiterer Ausbau der Schienenstranges über Wiesloch ans badischen Netz große wirtschaftliche Vorteile bieten würde, doch diese Pläne blieben vorerst auf Eis.
Die Bahnverbindung nach Westen steckte längst in den Köpfen der Politiker und Planer. Schon vor 1845 hatte der Ingenieur Charles de Vignoles in einem auch König Wilhelm I. vorgelegten Gutachten folgenden Vorschlag für einen Streckenverlauf nach Ludwigsburg unterbreitet: „Darauf läuft sie in gerader Linie nordwestwärts, durchschneidet den Hirschberg mittelst eines Einschnitts und geht dicht am Fuße des Hohenasberg ...hin, von wo sie etwas westwärts von Thamm mit einer sanften Kurve ins Sauerbachthal eintritt. – Nachdem sie eine Strecke weit, der Westseite des Thals entlang, fortgelaufen ist, erreicht sie den Punkt, wo die Zweigbahn nach Heilbronn ihren Anfang nehmen sollte. Die Hauptlinie verlässt hier das Sauerbachthal, krümmt sich westwärts und wird gerade über das Plateau hingeführt, um die Enz und das Enzthal bei der Bissinger Sägmühle, ..... , durch einen hohen und langen Viaduct zu übersetzen, der bis zum gegenüberstehenden Plateau geht, welches von hier aus in der Richtung nach Illingen zwischen der Enz und Metter sich ausbreitet. ... Der Viaduct über die Enz wird ein furchtbares Bauwerk werden. .... Wahrscheinlich werden 10 Bogen aus Holzrippen zu construieren nöthig, jeder von sehr weiter Öffnung. ....“ (2).
Vor der Realisierung dieser Ost-Westverbindung mussten allerdings hohe Hindernisse überwunden werden. Das größte Problem stellten die Verhandlungen mit dem Nachbarstaat Baden dar. Erst nach langem, zähem diplomatischen Ringen unter der Federführung von Gärttners Nachfolger, dem württembergischen Finanzminister Knapp, kam am 4. Dezember 1850 der Staatsvertrag mit Baden zustande und die schon vorher bestehenden Planungen traten in die Phase ihrer Konkretisierung ein. Mit Bayern hatte es bereits im Frühjahr 1850 eine Einigung gegeben, die nach der Fertigstellung des Albübergangs Geislingen – Ulm den Anschluss an die bayerische Linie Augsburg – Ulm sichern sollte.
Der 1812 (3) in Stuttgart geborene Oberbaurat Carl Etzel plante im Auftrag der württembergischen Regierung das technisch aufwändigste Problem der Westsbahnverbindung, den Enzübergang. Schon sein Vater hatte sich in Württemberg mit Planung und Ausführung der Neuen Weinsteige als Ingenieur einen Namen gemacht.
Carl Etzel verwarf frühere Entwürfe und Gutachten für Trassenführung der Westbahn und Baumaterialien für den Enzübergang. Statt der Abzweigung der Westtrasse in Eglosheim entschied er sich für Bietigheim. Möglicherweise spielten auch persönliche Beziehungen eine gewisse Rolle bei dieser Entscheidung. War doch Etzels Schwiegervater der in Bietigheim geborene Karl Gärttner, der als württembergischer Finanzminister 1844 einen entscheidenden Einfluss auf die Verkehrsentwicklung im Land hatte. Weiter wählte Etzel auch Stein statt des vorher angedachten Holzes als Baustoff. Sicher war einmal die längere Haltbarkeit eines Steinviadukts ein wichtiger Grund für seine Entscheidung. Zudem hatte Etzel bereits als 23jähriger Ingenieur in Frankreich mit einer Steinbrücke bei Asniére über die Seine Erfahrungen gesammelt. Mit einem Budget von 680 000 Gulden sollte diese 287 Meter lange, 33 Meter hohe , auf 21 Bögen ruhende Eisenbahnbrücke entstehen.
Neben Etzel als Planer des gesamten 55,07 Kilometer umfassenden Westbahnprojekts war der in Bietigheim lebende Bauinspektor August Beckh (4) für die Ausführung des Bauabschnittes Bietigheim zuständig. Der 1809 in Friedrichshafen geborene Beckh hatte schon 1842 an den Geländeuntersuchungen des Ingenieurs Vignoles teilgenommen. Er war später vom Eisenbahntechniker zum Königlich Württ. Baurat aufgestiegen und starb 90jährig in Stuttgart.
Weitere leitende Mitarbeiter des Projekts waren Werkmeister Metzger aus Stuttgart und Bauleiter Daniel Kaiser.
Aus Kaisers Sicht lässt sich das Projekt besonders gut beleuchten, denn seine Aufzeichnungen werden, seinem Wunsch entsprechend, im Stadtarchiv Bietigheim-Bissingen verwahrt. Kaiser war später als Stadtbaurat in Stuttgart tätig gewesen. In einem Brief vom 16. Dezember 1889 bat er seinen langjährigen Freund um „einen kleinen Liebesdienst“, der darin bestehen sollte, „... alles Wissenswerthe über den Bau des Enz Viaducts, das ich während meines Aufenthalts in Bietigheim 1851 – 56 gesammelt und zusammengehalten habe“ , der Stadtgemeinde Bietigheim zu übergeben (5).
Schon 1850 begannen die Vorarbeiten in Bietigheim. Abzweigend von der noch eingleisigen Nordbahntrasse wurde die als zweigleisig geplante Westbahn mit leichtem Gefälle zum Enztal hingeführt. Dort schufteten Taglöhner, in einem Arbeitsbeschaffungsprogramm der Mitte des 19. Jahrhunderts, für einen Laib Brot, um den Bahndamm vor dem Enzübergang aufzuschütten.
Die Grundsteinlegung am 2. April 1851 war der offizielle Baubeginn für das Großprojekt.
Die Hauptprobleme am Bau der Brücke stellten zuerst die sichere Gründung aller Pfeiler dar.
1851 sollten alle Pfeiler fundiert und bis zur Sockelhöhe aufgeführt sein. Doch nicht immer lief alles glatt. Am 1. August 1851 riss ein Hochwasser den Arbeitssteg hinweg, was aber die Fortschritte an der Baustelle nicht sehr zurückwarf. 1852 war das Schließen der Spannbögen oberstes Ziel. Auf ihrer Schale war ein Fußgängerweg vorgesehen, der von den Halbkreisbögen noch überwölbt wurde.
Immer wieder mussten neben dem zu erstellenden Bauwerk Arbeits- und Transportsstege weiterentwickelt und sicherheitstechnisch auf dem Laufenden gehalten werden. Um Mauerwerk und Bögen fertigen zu können, war ein vierstöckiges, 290 Meter langes und 18 Meter breites Gerüst aus fünf Reihen Stangenbäumen aufgerichtet worden. Um die Sandsteinquader überhaupt an ihre Bestimmungsorte transportieren zu können, waren besondere, an Loren erinnernde Wagen konstruiert worden, die auch auf den Gerüsten bewegt wurden. Insgesamt waren 500 bis 600 Arbeiter und Handwerker in Tag- und Nachtschichten auf der Großbaustelle tätig. Unfälle blieben da nicht aus. Im eigens in der Holzgartenstraße 9 eingerichteten Lazarett versorgte Stadtwundarzt Alexander Müller zahlreiche Verletzte. Für vier Mitarbeiter kam jede Hilfe zu spät.
Während der für ein solches Unternehmen sehr kurzen Bauzeit von 30 Monaten verarbeiteten die Brückenbauer unter anderem rund 5 000 Tonnen Sandstein. Um der Brücke ein lebendiges Äußeres zu geben, waren rote und gelblich-grüne Keupersandsteinblöcke im Wechsel verarbeitet worden, die aus den Gündelbacher, Brackenheimer und Heilbronner Brüchen stammten und auf speziell dafür konstruierten flachen Fuhrwerken herangeschafft wurden. Die Steinquader wurden sehr sorgfältig und solide mit Kalkmörtel vermauert.
Aus der Sicht des Kameralverwalters Ziegler aus dem Jahr 1853 wirkte das Viadukt noch vor seiner endgültigen Fertigstellung äußerst beeindruckend, wie er es in der Oberamtsbeschreibung des Oberamts Besigheim charakterisierte. Auch die „Schwäbische Chronik“, eines der führenden zeitgenössischen Presseorgane im Land, hatte das Monument bereits vor den offiziellen Feierlichkeiten gewürdigt. Anlass für den Bericht war eine erste Feier für die beteiligten Arbeiter bereits am 13. August 1853 in Bietigheim gewesen.
„Der Bau des Bietigheimer Enzviadukts ist bis auf wenige Arbeiten vollendet. Es fand eine ansprechende Feier statt, bei der sämtliche Arbeiter von der Eisenbahnverwaltung bewirtet wurden. .... Eine Musikbande war bestellt und unten waren lange Tafeln aufgeschlagen, wo sich die fleißigen Werkleute und Arbeiter ihres Werkes erfreuen durften. ... Bereits ist mit der Abtragung des Baugerüsts begonnen, sodaß demnächst der freie Anblick des Kunstwerks möglich sein wird. Zur Zeit werden die Schwellen und Schienen gelegt und wird das in Wasseralfingen gegossene Geländer eingesetzt.“
Am 20.September 1853 fand die offizielle Einweihungsfeier statt, in der die Enthüllung der in der Mitte des Viadukts angebrachten Gedenktafel „König Wilhelm 1853“ einen Höhepunkt bildete. Am 26. September folgte die feierliche Eröffnung der „Württembergisch-badischen Verbindungsbahn“.
Die Bilanz konnte sich sehen lassen: der für das Projekt gesteckte Zeitrahmen war bestens eingehalten worden. Ihre Tauglichkeit hatte die Brücke auch bereits mehrfach unter Beweis gestellt. Nur bei der Kostenseite war es zu Überschreitungen gekommen: 1,1 Millionen Gulden statt der zuvor veranschlagten 680 000 Gulden hatte die Brücke schließlich gekostet, eine für damalige Verhältnisse unvorstellbar hohe Summe.
Als Vergleichsobjekt bot sich schon damals die größte steinerne Eisenbahnbrücke der Welt an. 1846 war das Göltschtalviadukt auf der Strecke Leipzig – Hof begonnen worden. Am 15. Juli 1851 konnte die 78 Meter hohe, 574 Meter lange Brücke ihrer Bestimmung übergeben werden
Mit der Fertigstellung und weiterem Schienenweg konnte die Bahnlinie von Bietigheim über Mühlacker durch badisches Gebiet nach Bruchsal eröffnet werden. Damit war der Anschluss an die badische Rheintalbahn Mannheim – Basel erreicht. Erst Jahre später, genau 1879, hatte Baden die Teilstrecke von Bretten nach Bruchsal übernommen.
Schnell wurde das Brückenbauwerk zum Lehrstück für Ingenieure. Beispielsweise lobt Gustav Adolf Hänel, Professor an der polytechnischen Schule in Stuttgart, in seinem 1861 erschienenen Werk „Constructionslehre für Ingenieure“ das Viadukt als „sinnreiche Construction, schwache Dimension und saubere Ausführung ausgezeichneten Bauwerk“.
Blicken wir auf die Position Bietigheims als Eisenbahnknotenpunkt nach der Inbetriebnahme des Viadukts zurück, so fällt die Bilanz durchaus positiv aus.
Bereits 1863 war eine Erweiterung des örtlichen Bahnhofs nötig geworden. Und die Akzeptanz der Eisenbahn in der Stadt war erheblich besser geworden, wie ein Festgedicht anlässlich der 500-Jahr-Feier der Stadt aus dem Jahr 1864 zeigt.
Luxusreisezüge, allen voran der Orient-Express, verkehrten seit der 1883 getroffenen Vereinbarung mit den betroffenen Eisenbahnträgern als Schlafwagenzüge von Paris nach Wien und weiter nach Osten. Diese aus besonderen Wagen zusammengestellten Züge nutzen auch den Viadukt.
1893 war der zweigleisige Streckenausbau nach Heilbronn fertiggestellt worden und 1898 galt das württembergische Eisenbahnnetz als weitgehend abgerundet. Damit war die Expansionsphase nach einen guten halben Jahrhundert bereits beendet.
Es zeigte sich, dass der konsequente zweigleisige Ausbau zentraler Strecken die Bedeutung der Eisenbahn als Rückgrat der industriellen Entwicklung Württembergs verstärkte.
Für Bietigheim lässt sich die wirtschaftliche Bedeutung der Bahn in Verbindung mit Nord- und Westbahn am besten mit der Ansiedlung der Linoleum-Werke Nairn AG 1899 belegen. Die Bemühungen des Bietigheimer Stadtschultheißen Metzger um Industrieansiedlungen in Bahnhofsnähe hatten damit Erfolg gehabt. Später entstand mit der Arbeitersiedlung „Köpenick“ gegenüber dem DLW-Gelände ein eigener kleiner Stadtteil, der zwischen Altstadt und Bahnhof nahe am Viadukt für das Hinwachsen der Stadt zur Schiene mitverantwortlich war.
Die Nutzungsfrequenz des Viadukts steigerte sich, sodass 1913 erste Pläne zum Bau eines Entlastungsviadukts kursierten. Diese wurden bekanntermaßen nie realisiert.
In der Weimarer Republik ergaben sich weitere Veränderungen, die natürlich am Viadukt selbst spurlos vorübergingen. So endete mit der Annahme der Staatsvertrags vom 31. März 1920 die Königlich Württembergische Staatseisenbahn, die in der Deutschen Reichsbahn aufging. Das Landeseisenbahnvermögen mit allen Betriebsrechten wurde auf das Reich übertragen. Ein äußeres Zeichen war das Tragen einer einheitlichen Dienstkleidung, was nach der Gründung der Deutschen Reichsbahngesellschaft am 1. Januar 1924 überall eingeführt wurde. Nur die Landeskokarden an den Dienstmützen blieben davon verschont.
Nicht nur für den Bahnverkehr spielte der Viadukt eine wichtige Rolle. Er war seit den Bahnbauten ein bevorzugter Treff- und Festplatz für die Bevölkerung des Unterlandes geblieben. So diente es 1925 als Kulisse für eine „Gewerbe- und Industrieausstellung“ anlässlich des 75-jährigen Bestehens des örtlichen Gewerbevereins. Dazu ließ die Stadt Bietigheim nach gründlicher Vorbereitung an gleicher Stelle wie heute den Pferdemarkt wieder aufleben. Damals, um 1930, wird der Festplatz als „schön gelegen, geräumig und schattig beim Enzviadukt“ beschrieben.
Aus der Sicht der Verkehrsexperten rückten Bietigheim und Bissingen vor allem nach dem Ende des Ersten Weltkriegs stärker in den Blickpunkt, als sich die Kontakte zu großen deutschen Verschiebebahnhöfen wie Karlsruhe, Mannheim, Kaiserslautern, Mainz und München intensivierten. Der Einsatz schwerster Güterzuglokomotiven mit einem Dienstgewicht bis zu 180 Tonnen, die voll beladene Züge bewegten, bedeutete für das Viadukt noch nie gekannte Belastungen. Die Konstruktion wurde daher 1927 überprüft, unter anderem in einem Belastungstest mit fünf dicht hintereinander fahrenden schweren Loks. Diese Untersuchungen und auch die später daraufhin ausgeführten Verstärkungen in den Jahren 1928/29 standen unter der Regie von Dr. Ing. Karl Schächterle. Kosten von rund 630 000 Reichsmark waren für die Sanierungsarbeiten aufgebracht worden, die ohne größere Unglücksfälle abgeschlossen werden konnten.
Besonders interessant für Kinder, Jugendliche und sportliche Zeitgenossen wurde das Viadukt ab dem 12. Juli 1936. Mit der Einweihung des Freibades inklusive Kinderbad und Terrassencafè war ein Anziehungspunkt geschaffen worden, der mehrere „Väter“ hatte: neben der Stadt Bietigheim hatten die DLW-Werke und die NS-Organisation „Kraft durch Freude“ mitgewirkt.
Bomberangriffe im Zweiten Weltkrieg ließen das Viadukt nicht unbeschädigt, unterbrachen den Zugverkehr aber nie völlig. So konnten die Rohstoffe für die Industriebetriebe der Stadt noch bis ins Frühjahr 1945 per Bahn anrollen und die Produktion in der Stadt konnte fortgesetzt werden.
Erste Angriffe erfolgten am 2. Februar 1945, die sich vor allem zwischen dem 22. und 25. März steigerten. In diese Phase fiel auch die Zerstörung des Freibades unter dem Viadukt. Erst die Entscheidung der deutschen Heeresleitung, sämtliche Brückenverbindungen in Bietigheim zu sprengen, führte am 8. April 1945 zur Unterbrechung des Eisenbahnverkehrs. Erfreulich viele Zeitzeugen haben mir inzwischen ihre Erinnerungen sowohl über diese letzten Kriegsereignisse als auch über die Zeit der schrittweisen Wieder-Inbetriebnahme berichtet.
Da nach der Vereinbarung der französischen und amerikanischen Besatzungsmächte vom Juni 1945 Bietigheim zur amerikanischen Zone gehörte, waren es die Amerikaner, die sich mit der Wiederaufnahme des Schienenverkehrs über das Viadukt beschäftigen mussten. Immerhin war eine 75 Meter lange Lücke zu schließen und auf den stehen gebliebenen Pfeilern mit Gleisschwankungen bis 1,4 Metern die entstandenen Schäden umfahren werden. Amerikanisches Brückenbaugerät ersetzte als Zwischenstützen die gesprengten Pfeiler und der Schienenverkehr rollte ab 16. Juni im Schritttempo eingleisig auf schwankendem Notviadukt über die Enz. Allerdings ist dieses Datum nicht unumstritten, denn nach dem Tagebucheintrag einer Bietigheimerin soll dieses Notviadukt bereits 10 Tage einsatzbereit gewesen sein (6). Doch zeigte sich schon nach drei Wochen, dass diese Notüberbrückung den Anforderungen nicht gewachsen war und ab dem 9. Juli ruhte der Eisenbahnverkehr erneut. Die „Bietigheimer Zeitung“ vom 4. März 1976 schildert weiteren Arbeiten am Notübergang: „... Nachdem man zur Entlastung der Gewölbe Breitflanschträger eingebaut hatte und der gelockerte Mauerverband durch Stahlanker gesichert worden war, konnte der Bahnbetrieb am 30. Juli 1945 in beschränktem Umfang wieder aufgenommen werden.“
Der oben zitierte Zeitungsbericht führt weiter aus, dass sich bald wieder größere Schäden herausstellten, so dass die Besatzungsmacht im November 1945 der Firma Stahlbau Rheinhausen eine eingleisige Dauerbehelfsbrücke in Auftrag gab, die vom November 1946 bis zum 28. August 1949 in Betrieb war.“
Diese Notbrücke mit 317 Metern Länge aus Kriegsbrücken- und Pfeilergerät der Bauart Roth-Wagner war 15 Meter flussabwärts erstellt worden. Bei ihrer Einweihung am 23. November konnte, nach Darstellung Herrmann Roemers, die amerikanische Militärregierung für die Erneuerung des zweigleisigen Viadukts gewonnen werden.
Nach der Inbetriebnahme dieser Notbrücke wurde parallel zum laufenden Verkehr auf dieser Umgehung das eigentliche Viadukt wieder instandgesetzt. Dieser Wiederaufbau der gesprengten Pfeiler wurde von den Firmen Wayss und Freytag und Wolff und Goebel, Esslingen, erledigt. Die letztgenannte Firma hatte bereits 1913 der weltweit ersten schnell montierbaren und fahrbaren Turmkran entwickelt. Ein Museumsbesucher hinterließ den Hinweis, dass eine Illinger Stahlbaufirma in den Jahren 1947 bis 1949 die Brückenträger eingezogen habe (7). Dafür ließen sich allerdings noch keine Belege finden. Wieder war die Großbaustelle Arbeitsplatz für Menschen, die dringend eine Beschäftigung suchten: rund 180 Vertriebene fanden Anstellung.
Ein Sonderzug, der wieder das Viadukt überquerte, war ein Teil der Feierlichkeiten, mit denen diese Eisenbahnbrücke am 26. August 1949 wiedereröffnet wurde. Um 14 Uhr hatten sich Festredner, geladene Gäste und viele Bietigheimer unter dem Viadukt versammelt, um vor allem den Direktor der Reichsbahn, Dr. Busch, sprechen zu hören. Eine hochrangige Delegation aus Stuttgart mit dem Militärgouverneur, General Groß, dem Verkehrsminister Steinmeyer und verschiedenen weiteren Vertretern des Landtages, der Reichbahn, der Gewerkschaft Bau – Steine – Erden nahmen daran teil. Auch der Kreis Ludwigsburg, voran Landrat Kleinknecht, und die Stadt Bietigheim war mit vielen Vertretern anwesend.
In allen Ansprachen wurde die außerordentliche Bedeutung des Viadukts betont: so sei die Strecke über das Viadukt die meistbefahrene in der gesamten amerikanischen Zone. Orient-Express und Alpen-Nordsee-Express nutzen den Viadukt neben dem örtlichen Nahverkehr und vielen Güterzügen (8).
Bei dieser Feierstunde am 26. August 1949 gehörte auch der amerikanische Colonel Whittle zu den Festrednern. Er sah den Wiederaufbau des Viadukts, das beide Talseiten erneut verband, als Symbol für den Neuanfang in den friedlichen Kontakten zwischen Amerikanern und Deutschen.
Lediglich die Pfeiler der Notbrücke blieben auch nach dem Abbau der Gerüste stehen und erinnern noch heute an diese Phase (9).
1950 wurde Bietigheim an den Vorortverkehr nach Stuttgart angeschlossen, also rollten die Zubringerzüge von Sachsenheim oder weiter im Westen über das Viadukt. Seit dem 18. Mai 1952 konnte der elektrische Betrieb zwischen den wichtigen Bahnhöfen Bietigheim und Mühlacker aufgenommen werden und bis zum Sommerfahrplan 1958 war die Strecke von Bietigheim bis nach Karlsruhe durchgehend elektrifiziert (10). Auch jetzt kam dem Viadukt aus der Sicht der Verkehrsplaner eine entscheidende Rolle zu. Noch in den siebziger Jahren befuhren täglich rund 170 Reise- und 200 Güterzüge die Brücke. Erst die Eröffnung der ICE-Strecke 1991 reduzierte die Auslastung des Viadukts durch Personenzüge. Trotzdem zählt das Enzviadukt noch immer zu den wichtigsten Eisenbahnbrücken im deutschen Schienennetz. Regelmäßige jährliche Überprüfungen durch Brückenkontrolleure garantieren die Verkehrssicherheit der inzwischen in die Jahre gekommenen, natürlich längst unter Denkmalschutz stehenden Brücke.
In allerjüngster Vergangenheit bekam die Brücke auf Initiative der Bietigheimer Briefmarkenfreunde ein besonderes Geburtstagsgeschenk. Pünktlich zum 150. Jubiläum erschien eine 55 Cent-Sonderbriefmarke, die nun „unser“ Viadukt 30 Millionen mal im In- und Ausland bekannt macht. Diese zartfarbige Marke kennen Sie alle, doch vielleicht ist Ihnen einer der Sonderstempel entgangen, der die Eröffnung der Sonderausstellung „Sandstein – Schienen - Eisenbahn. 150 Jahre Bietigheimer Enzviadukt“ in der Verbindung des Viadukts mit dem Hornmoldhaus zeigt.
1 Staatsarchiv Ludwigsburg E 173 I, Bü 1244.
2 Bericht Charles de Vignoles, ..... S. 13 f.
3 Auch sind sich die Autoren der Sekundärliteratur uneins: 1811 bzw. 1813 werden ebenfalls als Geburtsjahr Etzels genannt. Auch über seinen Geburtsort, der mal mit Heilbronn, mal mit Stuttgart angegeben wird.
4 Hier herrscht Uneinigkeit über den Vornamen Beckhs: Roemer nennt in seinem Beitrag zum 100. Geburtstag des Viadukt „Friedrich“ als seinen Vornamen.
5 Brief Daniel Kaisers an Kanzleirat Böhs, einen gebürtigen Bietigheimer vom 16.12.1889. Stadtarchiv Bietigheim-Bissingen.
6 Information nach Unterlagen aus dem Stadtarchiv, Frau Pöhnl, 3.4.1995.
7 Hinweis von W. Polster, Kornwestheim, auf die Firma Luig in Illingen.
8 Heimatrundschau 27.8.1949.
9 Bietigheimer Zeitung 15.8.1987.
10 Eisenbahnkurier, Sept. 2003, S. 72.