Ein Bericht von Klaus Atzler über einen Vortrag von Wolfgang Wehnert am 19. Januar 2017
Vor 200 Jahren, am 14. Januar 1817, wurde wie in anderen württembergischen Städten auch in Bietigheim ein Armenversorgungs-Verein gegründet. Wie es zur Gründung dieses Vereins kam und welche Ziele er hatte, stellte vor Kurzem Wolfram Wehnert, der 2. Vorsitzende des Geschichtsvereins Bietigheim-Bissingen, in einem instruktiven Vortrag dar.
Das Jahr 1816 ist in unserer Region als „Jahr ohne Sommer” in die Annalen eingegangen. Es war zu kalt und zu nass, es gab kaum echte Sommertage, so dass die Ernte in diesem Jahr nur sehr geringe Erträge brachte und teilweise ganz ausfiel. Ursache dafür war ein gewaltiger Vulkanausbruch im fernen Indonesien im Jahr davor, der unvorstellbar große Mengen an Gesteinsmaterial in die Atmosphäre schleuderte und dadurch die Sonneneinstrahlung stark verringerte. Diese Ursache ist erst Mitte des 20. Jahrhunderts zweifelsfrei erkannt worden. Unter den Folgen hatte damals besonders die ärmere Bevölkerung zu leiden, denn die Missernte führte sofort zu einem starken Anstieg der Lebensmittelpreise und zu großer Teuerung.
Im Jahre 1816 bestiegen König Wilhelm I. und seine Gemahlin, Königin Katharina, den württembergischen Thron; Katharina war eine Tochter des russischen Zaren und Wilhelms Kusine. Sie hatte die Not der Bevölkerung auf einer Reise an den Bodensee kennen gelernt und beschloss, die Hilfe zur Linderung der Not zu organisieren. Deshalb ordnete sie an, dass überall in Württemberg Armenversorgungs-Vereine gegründet werden sollten. Sie übernahm persönlich den Vorsitz in der Zentralleitung dieser Vereine in Stuttgart und setzte ihre königliche Autorität dafür ein, mögliche bürokratische Widerstände zu überwinden. Die Vereine sollten sich um die ausreichende finanzielle Ausstattung der Armenkassen kümmern; die Honoratioren und Begüterten in den Städten wurden aufgefordert, für Werkstätten, Küchen, Krankenstationen zur Versorgung der sozial Schwachen zu sorgen. Außerdem sollten sie geeignete Arbeitsmöglichkeiten für arbeitsfähige, mittellose Personen schaffen. Über die eingeleiteten Maßnahmen sollte jeweils nach Stuttgart berichtet werden. Die Stuttgarter Zentralleitung war keine Behörde, sondern eine dem König direkt unterstellte Einrichtung - das ermöglichte schnelle, unbürokratische Entscheidungen.
Auch vor der Gründung der Armenversorgungsvereine gab es in Alt-Württemberg eine geregelte städtisch-kirchliche Armenfürsorge, wie der Referent betonte. Wer Anspruch auf Unterstützung aus der Armenkasse, dem so genannten „Armenkasten”, hatte, bekam als Ausweis eine Blechmarke zugeteilt, das war sein „heiligs Blechle”. Durch die neuen Vereine wurde die Versorgung bis in alle Einzelheiten organisiert: In Bietigheim wurde z.B. eine Armenküche eingerichtet, eine Köchin angestellt und es wurde genau festgelegt, wer für das Beschaffen von Kartoffeln, Erbsen und anderen Lebensmitteln verantwortlich war. Die Frauen der Honoratioren mussten unentgeltlich Nahrung für die Kranken bereitstellen. Insgesamt waren in Bietigheim 200 Personen vollständig auf die Armenversorgung angewiesen.
Die Regelungen, die Königin Katharina einführte, waren ein voller Erfolg: Ende 1818 bestanden in Württemberg schon 1665 Lokalvereine; die Stuttgarter Zentralleitung existierte 100 Jahre bis zum Ende der Monarchie 1918. Durch ihr tatkräftiges soziales Engagement hat sich Katharina ein lang dauerndes Andenken in der württembergischen Bevölkerung bewahrt.