Ein Bericht über einen Vortrag am 22. September 2014 zu neueren Forschungen zum Ausbruch des ersten Weltkriegs.
Für einen Vortrag des Stuttgarter Historikers Prof. Wolfram Pyta über neuere Forschungen zum Beginn des 1. Weltkriegs musste der Geschichtsverein Bietigheim-Bissingen in den großen Saal des Kronenzentrums ausweichen, um allen Interessierten die Teilnahme zu ermöglichen.
Vor einem Jahr erschien die deutsche Ausgabe eines Buches des australischen Historikers Christopher Clark über den Kriegsausbruch 1914 mit dem Titel „Die Schlafwandler”, das eine überwältigende Resonanz fand und, so Prof. Pyta, „die deutsche Geschichtswissenschaft aus dem Dornröschenschlaf geweckt hat”. Clark untersucht darin die Entscheidungsprozesse bei den europäischen Mächten, die zu den gegenseitigen Kriegserklärungen führten. Daran anknüpfend wies Pyta auf die strukturelle Schwäche des internationalen Systems im Jahre 1914 hin: Es gab keine Verabredungen zur Konfliktbewältigung, keine internationalen Organisationen wie die Vereinten Nationen, keine regelmäßigen Kontakte der Politiker. Im Gegensatz zu damals existieren heute internationale Institutionen, die Vertrauen aufbauen und Konflikte entschärfen sollen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts standen sich die europäischen Mächte in unterschiedlichen Allianzen gegenüber: auf der einen Seite der Zweibund zwischen dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn, auf der anderen Seite ein französisch-russisches Defensivbündnis und die Entente cordiale zwischen Frankreich und Großbritannien. Aber die These, die gegenseitigen Verpflichtungen hätten notwendig zum Ausbruch des Krieges geführt, trifft nicht zu, es gab keinen „Bündnisautomatismus”. In der Julikrise 1914 hatten die Politiker eine großen Handlungsspielraum, es war, wie Pyta betonte, eine „dynamische, nach allen Seiten offene Situation”; die Entscheidung für den Krieg fiel nicht zwangsläufig. Umso größer war die Verantwortung der handelnden Personen und die Bedeutung der nationalen Machtzentren, deren Analyse Prof. Pyta in den Mittelpunkt seines Vortrags stellte. Daraus können hier nur einige wichtige Aspekte erwähnt werden:
Der österreichisch-ungarische Außenminister Graf Berchtold wollte das Attentat von Sarajewo nutzen, um mit Serbien „aufzuräumen”; man dachte an einen begrenzten Krieg mit Serbien, hatte aber keinen Plan für den Fall einer Ausweitung des Konflikts, es gab, wie man heute sagen würde, keine „Exit-Strategie.” Frankreich und Russland erweiterten ab 1910/11 ihre Allianz, indem sie einen Angriff auf Serbien als Bündnisfall bezeichneten, obwohl Frankreich auf dem Balkan keinerlei Einflussmöglichkeiten besaß; dadurch waren der französischen Politik im entscheidenden Augenblick zusätzlich die Hände gebunden. Im britischen Kabinett gab es Politiker, die sich gegen eine Intervention in den französisch-deutschen Konflikt aussprachen; erst der deutsche Einmarsch in Belgien war ein veritabler Grund für das britische Eingreifen. Das deutsche politische System krankte an einer strikten Trennung von Politik und Militär: Selbst der skrupulös-vorsichtige Reichskanzler Bethmann Hollweg hatte keinerlei Einfluss auf militärische Entscheidungen; so konnte der Überfall auf Belgien nicht verhindert werden, obwohl den Politikern klar war, dass diese Aggression den Kriegseintritt Englands bedeuten würde.
Nach seinem Vortrag beantwortete Prof. Pyta noch die engagierten Fragen einiger Zuhörer. Auf die Frage nach der Kriegsbegeisterung 1914 wies der Historiker darauf hin, dass es eine solche Begeisterung keineswegs in allen Schichten des Volkes gab. Die Kriegspropaganda nutzte den Appell an die vermeintliche nationale Pflicht und an das Nationalgefühl dazu, das sozial tief gespaltene Volk zu einen, und beschwor das so genannte „August-Erlebnis”. Die anfängliche Begeisterung vieler lässt sich nur verstehen, wenn man bedenkt, dass damals beinahe niemand eine Ahnung davon hatte, was ein moderner, technisierter Krieg bedeuten würde; selbst die Politiker und sogar viele Militärs hatten davon keine realistische Vorstellung. Und so trifft der Titel von Clarks Buch „Die Schlafwandler” durchaus zu: Die Akteure waren sich der Tragweite ihrer Entscheidungen nicht bewusst.