Lagerbücher, wie bitte? Kaum einer der Gäste der beiden Vortragsabende beim Geschichtsverein im Oktober hatte zuvor eine genauere Vorstellung davon, was sich hinter dem Begriff Lagerbuch verbirgt. Reinhard Hirth schloss diese Wissenslücke anhand der Bissinger Lagerbücher aus dem 16. Jahrhundert.
So wie wir heute für unsere Immobilien eine jährliche Grundsteuer an das städtische Steueramt entrichten, so mussten auch die Menschen früherer Jahrhunderte für ihren Grundbesitz Abgaben leisten, allerdings meist nicht in Geld, sondern in Naturalien wie Korn, Wein und Geflügel, aber auch Obst, sonstigen Feldfrüchten und Heu. Auch war nicht einfach die Gemeinde Empfänger dieser Abgaben, sondern die sogenannten Grundherrschaften.
In Bissingen waren das die Herrschaft Württemberg, in weit größerem Maße jedoch das Kloster Lorch, das seit staufischer Zeit Grundbesitz hier hatte, aber auch das Spital Markgröningen oder neben anderen der Frühmesser von Schützingen, der u.a. durch seine hiesigen grundherrlichen Besitzungen für seine täglichen frühen Messelesungen entlohnt wurde.
Jeder dieser Grundherren ließ Listen seiner Zinspflichtigen anlegen, mit der genauen Angabe der Lage von deren Äckern, Wiesen und Weinbergen in der Feldflur und welche Abgaben von den jeweiligen Ländereien zu entrichten sind. Diese Listen wurden in die dauerhaftere Form von Büchern gebunden, eben die Lagerbücher.
Die Bissingen betreffenden Lagerbücher des 16. Jahrhunderts lagern heute im Hauptstaatsarchiv in Stuttgart. Das Stadtarchiv Bietigheim besitzt davon Mikrofilmaufnahmen. Reinhard Hirth hat diese Filme gescannt und auf seinen Computerbildschirm gebracht und dann die nicht leicht zu lesenden Texte abgeschrieben und auch für Interessenten auf seiner Homepage zugänglich gemacht.
Vor allem aber hat er die nun zum ersten Mal in lesbarerer Form vorliegenden Lagerbücher ausgewertet, und dies nicht nur deren ursprüngliche Steuerzwecke betreffend, sondern auch, was sie uns darüber hinaus sagen können über Bissingen in alter Zeit. Das Zinsen, d.h. das Abgeben der Naturalsteuern war an die jeweiligen Erntezeiten gebunden. Die herrschaftlichen Steuereinnehmer mussten termingerecht auf den Äckern und in den Keltern erscheinen, um die Naturalabgaben einzufordern und zu den vorgegebenen Sammelorten transportieren zu lassen. Man kann sich diesen aufwendigen Betrieb heutzutage kaum mehr vorstellen. Um die Steuereinnahme etwas zu vereinfachen, wurden manche ausgewählte Bauern von ihrer Grundherrschaft mit der Funktion eines Trägers betraut. Diese mussten die Zinsabgaben mehrerer Bauern zusammentragen und für die geordnete Weiterleitung an den Grundherrn sorgen. Sicher bisweilen keine einfache Aufgabe!
Reinhard Hirth berichtete auch, wie seine intensive Beschäftigung mit den Bissinger Lagerbüchern diese für uns zu interessanten historischen Quellen werden lassen weit über das hinaus, wofür sie eigentlich gedacht waren. So ergab sich z.B., dass die sogenannten Fressäcker, dieser merkwürdige quadratische Einschnitt in den Bruchwald nichts mit Fressen zu tun hat, sondern mit Fräsen, wurden sie doch einstmals gezielt in den Wald eingefräst. Oder konnten die alten Wegeverbindungen zu den Nachbarorten festgestellt werden, die in aller Regel so kurz wie möglich geführt wurden, musste man doch alles zu Fuß zurücklegen. Dazu gehörten auch vor dem Bissinger Brückenbau über die Enz im Jahr 1628 eine ganze Reihe von Furten oder Fährmöglichkeiten über die Enz im Zuge der möglichst kurzen Wegeführung.
Reinhard Hirth konnte auch die Lage des Grabens zeigen, der einst den mittelalterlichen Ort als Ettergrenze umschloss. Dabei war die Kilianskirche zwar in den Etterbereich eingeschlossen, aber mit dem sie umgebenden Friedhof immer westlich der eigentlichen Dorfbebauung gelegen. Diese befand sich anfänglich im Bereich der heutigen Kreuzstraße, um die Mühle,im Bereich des alten Rathauses, beim großen Lorcher Hof und im weiteren Verlauf südlich der östlichen Jahnstraße.
Ganz nebenbei erbrachte das intensive Studium der Lagerbücher auch einen interessanten Blick auf die Vornamen, die früher in Bissingen anzutreffen waren. Während bei den Frauen, soweit sie in den Lagerbüchern genannt sind, nur neunerlei Namen auftauchen, sind es bei den Männern über sechzig. Das Studium der Familiennamen übrigens zeigt eine rege Bevölkerungsfluktuation durch all die Jahrhunderte, wobei auffällig ist, dass, entgegen der Erwartung, der Dreißigjährige Krieg nicht eine größere Zäsur erbrachte.
Lagerbücher, wie bitte? Ergiebige Quellen der Geschichte! wie Reinhard Hirth eindrücklich darstellte.