Ein Bericht von Stefan Benning über die GV-Runde am 9. November 2011
Es war ein richtiges Highlight im Begleitprogramm der Rotenburger-Ausstellung, gemeinsam von Stadtmuseum Hornmoldhaus und Geschichtsverein Bietigheim-Bissingen veranstaltet. Kurzweilig, pointiert und aus einem souveränen Wissen schöpfend referierte am vergangenen Mittwochabend im voll besetzten Pflügersaal des Schlosses der gebürtige Bietigheimer Dr. Martin Jung, Professor für ev. Theologie an der Universität Osnabrück. Unter dem Motto „Dem Volk aufs Maul schauen und das Wort Gottes unters Volk bringen” galt Jungs Blick der evangelischen Kirche und der Verbreitung der Bibel von der Reformation bis zur Gegenwart. En passant ordnete er dabei Rotenburgers Biblische Summarien nicht nur in den größeren inhaltlichen Zusammenhang ein, sondern konnte gleich noch einige wichtige und bisher unbekannte Details zu den Summarien beitragen, in der Tat „einer besonderen Bietigheimer Kostbarkeit”.
Die Bibel, die Heilige Schrift der Christen und in Teilen auch der Juden, war zu Luthers Zeiten Produkt einer mehr als 1500jährigen Überlieferungs- und vor allem Übersetzungskette von ursprünglich hebräischen Texten übers Griechische (Septuaginta) ins Lateinische (Vulgata). Da jede Übersetzung immer auch Interpretation und fehlerbehaftet ist, traten zwischen den Urtexten und den Überlieferungen teils erhebliche Diskrepanzen auf. Auch war zum Verständnis der fremdsprachigen Texte für den einfachen Christen die Vermittlung der Kirche bzw. von Interpreten notwendig, die ihrerseits wiederum bewusst oder unbewusst bestimmte Ziele verfolgten. Martin Luther nun, verzweifelnd am Zustand von Kirche und Glauben in seiner Zeit, wollte u. a. diese Zwischeninstanzen in der Beziehung zwischen Mensch und Gott beseitigen und das Wort Gottes jedermann unmittelbar zugänglich machen. Er übersetzte die Bibel dazu in ein allgemein verständliches Hochdeutsch und ging dabei ganz im Trend seiner Zeit auf den hebräischen Ursprungstext zurück. Was Luther mit der Bibel tat, hatten zuvor andere Gelehrte mit den Texten der antiken Philosophen gemacht, die im Westen bis dahin vornehmlich aus arabischen Übersetzungen bekannt waren. Nach der Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Türken brachten fliehende griechische Gelehrte viele Originaltexte mit nach Italien. Nun konnte man die verschiedenen Überlieferungen vergleichen und wieder aus den Originalquellen schöpfen. Damit begann die Bewegung ad fontes, zurück zu den Quellen. „Überspitzt formuliert, könnte man deshalb sagen”, so Jung, „ohne die Eroberung Konstantinopels durch die Türken, hätte es wahrscheinlich keine Reformation in Deutschland gegeben.”
Mit der Übersetzung ins Deutsche und der Verbreitung mit Hilfe des gerade erfundenen Buchdrucks war es aber noch nicht getan. Es bedurfte weiterhin einer intensiven kirchlichen Vermittlung, um Bibelkenntnis ins Volk zu tragen. Dies versuchte man seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts u. a. mit sogenannten „Summarien”, kapitelweise knappen Zusammenfassungen der teils schwer verständlichen biblischen Bücher. Und hier sind Conrad Rotenburgers Biblische Summarien einzuordnen. Sie stellen eine Verbindung von mittelalterlicher Bilderbibel für Leseunkundige und den genannten Summarien dar. In Rotenburgers Version sind diese durch ihre Reimform zudem noch merkfähiger.
„Die Stadt Bietigheim hat damit ein ganz besonderes Buch”, stellte Jung fest. Und von diesem sind nur noch fünf Exemplare überhaupt bekannt. In Vorbereitung auf den Vortrag hatte sich Jung die Exemplare in der Unibibliothek Hannover und der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel angesehen und dabei wichtige Entdeckungen gemacht. Das Wolfenbütteler Exemplar war dem bibliophilen Herzog Ernst August von Braunschweig-Lüneburg wohl persönlich von dem württembergischen Theologen Johann Valentin Andreae vermacht worden, denn sein Konterfei klebte als Ex Libris im Frontispiz. „Damit wird wahrscheinlich”, so Jung, „dass Andreae, der bereits das von Rotenburger ausgeführte theologische Programm in der Vaihinger Stadtkirche entworfen hatte, auch der spiritus rector der Summarien war, ja möglicherweise sogar die Texte entworfen hat.” Dabei waren Rotenburgers Summarien in den Augen Andreaes jedoch wohl nicht ganz geglückt. Rotenburger habe es „versudelt”, urteilte Andreae gegenüber Herzog Ernst-August. Einige Jahre später wollte Andreae Ähnliches mit Matthäus Merian in Straßburg (1642) erneut auf den Weg bringen. Die Sache kam jedoch nicht zustande.
Das Wolfenbütteler Exemplar birgt noch eine Besonderheit: Das erste Blatt ist ersetzt durch eine Federzeichnung. Handelt es sich dabei möglicherweise gar um eine Originalzeichnung Rotenburgers, wie Jung aufgrund der Provenienz des Bandes anzunehmen geneigt war? Oder „nur” um eine spätere Abzeichnung zur Vervollständigung, wie Stadtarchivar Stefan Benning aufgrund des erkennbaren Druckplattenrandes vermutete, der bei einer Vorlagezeichnung keinen Sinn machen würde?
Die zahlreichen Fragen des Publikums, die Jung alle souverän und mit großer Geduld zu beantworten wusste, zeigten das große Interesse, mit dem Jungs Ausführungen verfolgt worden waren. Mit lang anhaltendem Beifall, einem Exemplar des vom Geschichtsverein herausgegebenen Nachdrucks der Summarien und einem Bietigheimer Weinpräsent wurde Jung dankbar für einen unterhaltsamen und zugleich bildenden Abend verabschiedet.