Ein Bericht von Stefan Benning über die GV-Runde am 3. November 2010
Der Geschichtsverein Bietigheim-Bissingen widmete sich in seiner November-Monatsrunde am vergangenen Mittwoch im Bärensaal erneut dem „Schicksalsjahr 1945”. Der Leiter des Bunker-Arbeitskreises Till Kiener referierte sachkundig den militärstrategischen Rahmen, der Zeitzeuge Otto Diesler schilderte bewegend seine Erfahrungen als damals 16jähriger Flak-Kanonier bei der Verteidigung des Viadukts.
Drei Stunden lang lauschten fast 100 Zuhörer, darunter zahlreiche Schüler, gebannt den Ausführungen über die letzten Kriegstage in Bietigheim und Bissingen - nun vor allem aus militärischem Blickwinkel. Till Kiener, der mit seinen Mitstreitern seit zehn Jahren den Musems-Bunker in der Bissinger Brandhalde betreut, schilderte zunächst die militärische Lage an der Jahreswende 1944/45. Die geschwächte Deutsche Wehrmacht konnte die Grenze gegen die von Westen vordringenden alliierten Truppen nicht halten. Als auch der Rheinübergang nicht zu verhindern war („Brücke von Remagen”), drangen die alliierten Truppen trotz teils heftigen Widerstands weiter nach Westen und Süden vor. Im Südwesten lieferten sich die Franzosen und die Amerikaner einen Wettlauf, wer zuerst Stuttgart erreichte.
In dieser Zeit, genauer gesagt am 2. Febr. 1945 erhielt der gerade 16 Jahre alte Otto Diesler in St. Goarshausen am Rhein seinen Einberufungsbefehl in das Flakersatzbatallion 45 nach Rottweil. Bereits die Zugfahrt nach Rottweil wurde in Wiesbaden jäh durch einen Fliegerangriff unterbrochen: Diesler wurde Zeuge des alliierten Großangriffs auf Mainz und war dem Krieg plötzlich ganz nah. Im winterlichen Rottweil angekommen, wurde er noch in Zivilkleidung, mit Koppel und viel zu großem Stahlhelm versehen, umgehend vereidigt und mit anderen Gleichaltrigen nach Bietigheim abkommandiert. Hier galt es, den für den Rückzug der Deutschen Truppen von der Westfront strategisch wichtigen Enzviadukt gegen feindliche Fliegerangriffe zu schützen. Im damals noch weitgehend unbebauten Auraingebiet war dazu südlich der Köpenick-Siedlung auf freiem Feld eine 2-cm-Vierlingsflak eingegraben (weitere Stellungen waren bei der Laurentiuskirche und im Gebiet „Zehn Morgen” auf der anderen Enzseite), unweit davon westlich an der Hangkante über der Enz befand sich der Kommandeursbunker. Eine nahe Holzbaracke war für die 15 Mann Unterkunft und Schulungsraum zugleich. Ausgebildet wurden die völlig unerfahrenen Buben von älteren Soldaten.
Dieslers Aufgabe war die des Richtkanoniers. In Eiseskälte musste zunächst von der Lug, Munition und Material geholt werden. Diesler erinnert sich, dass die Bietigheimer sehr freundlich und zuvorkommend waren. Bei einer Wirtin erhielten sie kostenlose Verpflegung, Männer spendierten ihnen Getränke. Anfangs gab es sogar noch Zeit, ins Kino zu gehen. Ab Anfang März verschärfte sich jedoch die Lage. Zunächst waren es noch vereinzelte Aufklärungsflüge, am 23. März jedoch tieffliegende Spitfire von Nordost, dann 16 Jagdbomber, die in 4 Angriffswellen den Viadukt mit Bomben belegten. Es wurdenjedoch nur die Gleisanlagen zerstört, der Viadukt aber nicht nachhaltig beschädigt. Nun begann für die jungen Soldaten der praktische Ernstfall. Tatenlos mussten sie hingegen am darauffolgenden „Schicksalstag” das Bombardement der Stadt mit ansehen. 27 Marauder-Bomber flogen in 3.500 m Höhe einen Angriff und damit weit jenseits der Reichweite der Flak. In zehnminütigem Abstand setzten sie Bombenteppiche ab. Diese Spezialbomben mit hoher Sprengkraft trafen viele Häuser der Stadt und beschädigten auch drei Viaduktpfeiler schwer. U. a. war eine 6 m lange Eisenbahnschiene dabei durch die Luft in ein Haus geschleudert worden, wo sie durch die Decke direkt neben einem Flügel einschlug. Doch noch in der Nacht wurde der Viadukt durch die Organisation Todt wieder befahrbar gemacht. Weil bald keine Munition mehr da war, wurde auch die Übungsmunition noch verschossen „zur Beruhigung der Bevölkerung”, wie Diesler sagte.
Als die Franzosen Anfang April näher kamen, kommandierte man die Flakbesatzung zum Bau von Panzersperren an den Einfallstraßen ab, jeweils 5 Mann gemeinsam mit dem Volkssturm. Bevor jedoch die alliierten Truppen die Enz erreichten, wurde Diesler mit seinem Regiment nach Stuttgart-Feuerbach abgezogen. Das Kriegsende erlebte er in Kisslegg im Allgäu, wo er zunächst in französische Kriegsgefangenschaft geriet und dann als Erntehelfer bei einem Bauern arbeiten konnte.
Kiener erläuterte im Anschluss, sowohl aus deutschen wie aus französischen Quellen schöpfend, die militärische Entwicklung an Neckar und Enz. Leitfrage war ihm dabei, warum Bietigheim einer Zerstörung entging. Der in mehreren Stoßrichtungen vordringenden französische Armee gelang es bei Mühlhausen einen Enzübergang zu erhalten, während gleichzeitig die Amerikaner bei Heilbronn bereits über den Neckar gesetzt hatten und nach Süden vorstießen. Die Franzosen suchten deshalb an der Enz keine weitere Konfrontation, sondern konzentrierten sich vorwiegend auf den Mühlhäuser Brückenkopf, um von hier aus weiter nach Stuttgart vorzustoßen. Die sichernden Truppen nördlich der Enz hatten nur die Aufgabe, die deutschen Truppen in ihren Verteidigungsstellungen zu binden. Als diese von Amerikanern und Franzosen in die Zange genommen wurden, zogen sie sich zurück und sprengten auch in Bietigheim sämtliche Enzübergänge, auch den Viadukt. Bietigheim war zwar 10 Tage Frontstadt, doch es war keine Front ernsthafter Kämpfe. Der französische Vorstoß über die Enz war längst an anderer Stelle gelungen. Bietigheim wurde einfach umgangen. Die Mitte der 30er Jahre angelegte Bunkerkette der Neckar-Enz-Stellung blieb hier wirkungslos.