Ein Bericht von Stefan Benning über den Vortrag von Michael Schirpf in der GV-Runde am 8. Oktober 2008
Einen Monat vor dem eigentlichen Jahrestag beschäftigte sich der Geschichtsverein Bietigheim-Bissingen in seiner Monatsrunde im Bärensaal mit der nationalsozialistischen Judenverfolgung und der Reichspogromnacht vom 9./10. November 1938.
Michael Schirpf, Lehrer am Gymnasium im Ellental, geht seit vielen Jahren forschend und vermittelnd der Geschichte des Nationalsozialismus in unserer Region nach, insbesondere auch der Judenverfolgung. Der Tod des letzten noch in Freudental lebenden Täters und die bisher nicht aufgeklärte Schändung des Freudentaler Judenfriedhofs im vergangenen Jahr waren ihm Anlass, sich erneut intensiv speziell mit den Freudentaler Verhältnissen auseinanderzusetzen, einer Gemeinde in der traditionell besonders viele jüdische Bürger angesiedelt waren (1933 etwa 100 Personen). Schirpf hat seine Forschungsergebnisse in einem Beitrag für die Ludwigsburger Geschichtsblätter niedergelegt, der demnächst erscheinen wird.
In Bietigheim waren um die sogenannte „Reichskristallnacht“ keine Ereignisse zu verzeichnen, weil es keine jüdischen Mitbürger mehr gab. Die einzige bis dato in der Stadt lebende jüdische Familie Stein, die ein Geschäft in der unteren Hauptstraße führte, war bereits 1936 geschlossen in die USA ausgewandert. Sie war damit wie 330.000 der insgesamt 566.000 in Deutschland lebenden Juden einem grausigen Schicksal entgangen. Gleichwohl waren Bietigheimer Funktionäre der NSDAP an den Ereignissen in Freudental beteiligt.
Nach einer allgemeinen Einführung in die nationalsozialistische Rassenideologie und -politik, konnte Schirpf sehr eindrucksvoll die Ereignisse am 10. und 11. November 1938 in Freudental aus den seit Mitte der 1990er Jahre zugänglichen Spruchkammerakten rekonstruieren und zeigen, wie das jüdische Leben schon vor den Ereignissen von 1938 zunehmend isoliert, erschwert und schikaniert wurde. Als Zeitzeuge stand ihm der inzwischen verstorbene Simon Meisner, der damalige jüdische Dorfschullehrer zur Verfügung, dessen einstiger Freund und christlicher Kollege gemeinsam mit dem Pfarrer zum antijüdischen Hauptprotagonisten wurde. Ein Niederbrennen der eng umbauten Freudentaler Synagoge verhinderten in letzter Minute die um Haus und Hof fürchtenden Nachbarn, nicht aber eine Plünderung des Inventars und jüdischen Besitzes. Mit Unterstützung Freudentaler Bürger gelang es Simon Meisner nach und nach alle Jugendlichen der jüdischen Gemeinde ins Ausland zu bringen, so dass schließlich „nur“ einige Alte deportiert und in den Tod geschickt wurden.
Abschließend und paradigmatisch für ein letztlich glücklich ausgegangenes jüdisches Verfolgungsschicksal führte Schirpf einen vor zehn Jahren entstandenen Dokumentarfilm über den holländischen Juden Jules Schelvis vor. Schelvis kam überwiegend selbst zu Wort und schilderte seinen Weg von Amsterdam durch verschiedene KZs bis er schließlich 1944 ins KZ Vaihingen verlegt wurde. Hier arbeitete er unter schwersten Bedingungen an einem riesigen Bauwerk, dessen Zweckbestimmung ihm und seinen Mithäftlingen bis zum Schluss unklar blieb. In beißendem Sarkasmus bezeichneten die Gefangenen das Bauwerk gemäß des deutschen Sprichworts „Arbeit macht das Leben süß“ als „Schokoladenfabrik“. Katastrophal unmenschliche Verhältnisse müssen im Außenlager Unterriexingen geherrscht haben. Es sei das schlimmste gewesen, was er überhaupt je erlebt habe, sagte Schelvis. Im April 1945 wurde Schelvis und seine Mitgefangenen von französischen Soldaten befreit.
Der Geschichtsverein Bietigheim-Bissingen wird im Rahmen seines Jahresprogramms am 25. Oktober die KZ-Gedenkstätte in Vaihingen besuchen.