Ein Bericht von Stefan Benning über den Vortrag von Reinhard Hirth in der GV-Runde am 2. Dezember 2009
In der jüngsten Monatsrunde des Geschichtsvereins Bietigheim-Bissingen spürte Reinhard Hirth am vergangenen Mittwoch Johannes Carion nach. Carion alias Nägele war neben Sebastian Hornmold der zweite großen Bietigheimer Sohn des 16. Jahrhunderts. In der Lutherzeit machte er Karriere als Astrologe und Diplomat am Brandenburger Hof in Berlin. In seiner Heimat aber versagten ihm die Historiker die Anerkennung. Zu Unrecht, wie Hirth nachwies.
Über die Beschäftigung mit der Geschichte der Straßennamen in Bietigheim-Bissingen war Reinhard Hirth, Lehrer am Ellentalgymnasium, auch auf Johannes Carion aufmerksam geworden. Aus Anlass von Carions 400. Todestag 1937 hatte man auf der Lug die kleine Verbindungsstraße zwischen Spatzenäckerweg und Erwin-Bälz-Straße Carionstraße benannt.
Johannes Carion wurde als Johannes Nägelin 1499 in Bietigheim geboren. Nach dem Besuch der Lateinschule in Bietigheim und dem Studium in Tübingen war er seit 1518 als Astrologe des Markgrafen von Brandenburg in Berlin. Hier graecisierte er seinen schwäbischen Namen 1519 der intellektuellen Mode der Zeit nach, gab mehrere Prognostiken heraus und reiste als Diplomat im Auftrage seines Landesherrn an verschiedene europäische Höfe.
Doch die Würdigung Carions fällt in der Ortsgeschichte, wie Hirth feststellte, merkwürdig zurückhaltend, ja fast negativ aus. Von einem „seltsamen Mann”, einer „fragwürdigen Gestalt” mit scharlatanhaften Zügen spricht Roemer. Doch Hirth kann in drei Schritten nachweisen, dass Roemer, von Hause aus Pfarrer, sich seinerseits in seinem Urteil auf zweifelhafte Grundlagen beruft.
Obwohl auf der wissenschaftlichen Basis von Mathematik und Astronomie fußend, hatten die Astrologie und ihre Vertreter seit der Aufklärung kein gutes Ansehen mehr. In dieser Tradition der schroffen Ablehnung stand auch Roemer. Da passte der moralisch fragwürdige Tod Carions gut in das negative Bild: Carion war bei einem Trinkgelage 1537 zu Tode gekommen. Eine der zugrunde liegenden Quellen dafür führte Hirth als intellektuelle Spielerei der möglicherweise bei der Beerdigung Anwesenden vor und will ihr keine zu hohe Bedeutung beimessen. Zweifellos sei Carion jedoch kein Kostverächter gewesen, wie sowohl sein Porträt von der Hand Cranachs als auch seine Berichte von diplomatischen Missionen im Auftrag des Markgrafen von Brandenburg erkennen lassen.
Die Rolle Carions bei der in vielen Auflagen und zahlreichen übersetzungen erstmals 1532 erschienen Chronica Carionis, einer in deutscher Sprache verfassten Weltchronik, sei schließlich der dritte Grund für die Missachtung gewesen. „Wenn Carion es geschehen ließ,” so Roemer, „dass das Geschichtsbuch Melanchthons unter seinem Namen in die Welt hinausging und ihn mehr als irgend eines seiner eigenen astrologischen Schriftchen weltberühmt macht, so verrät dies einen moralischen Mangel.” Damit werden jedoch die historischen Fakten schon chronologisch vollkommen verdreht. Zwar ist bis heute nicht wissenschaftlich geklärt, wer welchen Anteil an der Chronica hatte. Die Rolle des protestantischen „Heiligen” Melanchthon dabei wurde aber schon seit den 1920er Jahren eher zurückhaltend beurteilt. Roemers Carion-Bild vom „üblen Säufer, der sich schamlos mit fremden Federn schmückt, überzeugt also nicht,” so Hirth.