Bericht eines Holländers

„Schon bald nach der Besatzung von Holland durch die deutsche Armee Mai 1940 wurden von den dazu angewiesenen Behörden mittels Anzeigen sowie übers holländische Arbeitsamt Arbeiter für den Arbeitseinsatz in Deutschland angeworben. Im März 1943 wussten wir, die wir bei unserer von den deutschen Behörden kontrollierten Stadtzeitung arbeiteten, dass die Behörden schon geraume Zeit dazu übergegangen waren, einen gewissen Prozentsatzes an Personal von den holländischen Unternehmern zu fordern. Ein Altersgenosse in unserer Verwaltungsabteilung und ich, wir stellten uns darauf ein, dass uns eines Tages auch solch eine Forderung zu Teil werden würde und wir verabredeten, dass wir, wenn wir dem nicht entkommen könnten, zusammen gehen würden. Solange begann ich, mir einen solchen gezwungenen Aufenthalt in Deutschland vorzustellen in einer idyllischen Umgebung wie in dem damaligen deutschen Film ‚Der Pfarrer von Kirchfeld’, sah mich mit einem natürlich deutschen Mädel in einem Dirndl auf einer kleinen hölzernen Brücke über einem Bach stehen, weit weg von der Politik und in jeder Hinsicht versuchte ich in meiner Fantasie, „aus der Not eine Tugend“ zu machen. Damit dachte ich mich auch weit von Bombenangriffen. In der letzten Märzwoche 1943 also wurde von vier Mitarbeitern der Zeitung eines Tages ziemlich früh die Aufforderung zugestellt, sich beim örtlichen Arbeitsamt zu melden. Welche vier? Ein Schriftsetzer, jemand vom Versand, unser Fahrer und von der Verwaltung nur ich, damals gut 20 Jahre alt. Ein Unternehmen erhielt damals von der Besatzungsbehörde übers Arbeitsamt den Auftrag, eine Liste zu liefern mit allen Namen und Daten vom Personal, worauf die Geschäftsleitung nach eigener Wahl einen festgelegten Prozentsatz in der Liste individuell anstreichen sollte. Der Chef hatte seinen jüngeren Schwager, in meinem Alter und zwei Jahre nach mir in den Betrieb gekommen, ungeschoren gelassen und auch seinen ersten Assistenten. Dieser ist jener oben erwähnte 23-jährige Kollege, mit dem ich obige Verabredung getroffen hatte. Dieser bot sich nun, unter einigem Widerstand seines Chefs, freiwillig an, um damit den Fahrer, der Familie hatte, zu ersetzen. Das gelang ihm übers Arbeitsamt! Beim Arbeitsamt wurden daraufhin bestimmte nähere Personaldaten erfasst und wir wurden ärztlich untersucht, wobei auch Urin abgegeben werden musste. Viel später erfuhr ich, dass einer der anfangs geschonten Kollegen, der trotzdem einige Monate nach uns zum Arbeitseinsatz einberufen wurde, sich von einem befreundeten Beamten vom Arbeitsamt hatte raten lassen, den Urin zu manipulieren, in dem er irgendetwas beimischte und dann dem Arzt gegenüber irgendwelche Beschwerden, die zur Beimischung passten, vorlog. Er wurde auf diese Weise zunächst ausgemustert. Am Donnerstag, den 1. April 1943 standen mein Freund Martien und ich und die zwei erwähnten Kollegen morgens auf dem Bahnsteig des Hauptbahnhofes Den Haag - was mich anbelangt, so hatte ich viel zu viel Gepäck dabei. Es war mir zum Teil nachgetragen worden von meiner besorgten Familie und freundlichen Nachbarn. Ingesamt waren wir rund 50 oder mehr Einberufenen aus Den Haag. Und selbstverständlich waren auch viele überschwängliche Verwandte, Freundinnen und Freunde mit zum Bahnhof gekommen. Bis an die Grenze sind nachher noch einige Einberufene zugestiegen, alle unter der Führung eines nicht-autoritären holländischen, sog. ‚deutschfreundlichen’ Beamten. Die meisten der abreisenden Männer waren, meiner Erinnerung nach, guten Mutes. Unterwegs im Zug teilte der Kollege aus dem Versand ein seit zwei Jahren kaum mehr gesehenes und gegessenes Weißbrot und ein Fläschchen holländischen Genever mit uns. Am Nachmittag kamen wir in Kaldenkirchen, kurz nach der Grenze, an, wo wir zur Versorgung (Suppe oder Brot) etwa eine Stunde untergebracht wurden in irgendeinem hölzernen Gebäude. Danach ging es Richtung Mönchengladbach, wo wir umsteigen mussten. Übrigens wurde die Führung in Mönchengladbach von einem deutschen Reiseführer übernommen, der sich ebenso wenig autoritär benahm. Man hätte meines Erachtens unterwegs einfach aussteigen und verschwinden können, was dann aber gleichgestellt worden wäre mit Untertauchen. Aber soweit waren wir nicht, sonst wären wir schon erst gar nicht auf dem Bahnsteig erschienen. Später im Jahr und auch danach traten die Begleiter, wie ich später erfahren habe, in dieser Hinsicht viel strenger auf. Um in Mönchengladbach den Bahnsteig zu wechseln, wo es mittlerweile Abend war, haben wir eine Unterführung benutzt, in dem wir zu unserem Erstaunen einen, zwar leeren, Automaten für Verhütungsmittel an der Wand sahen. So etwas hatte ich noch nie gesehen, nach unserer mittelschulischen und kirchlichen Erziehung stand das gleich mit Sünde! Dieser Automat erschien uns als der Beweis für die Demoralisierung im Hitler-Deutschland. Die Unterführung erinnerte mich zu guter Letzt nun auch an das kaum zu tragende Gepäck. Mir musste von zwei Kollegen geholfen werden! Nach Mönchengladbach wurde irgendwo auf halben Weg zu Bietigheim (diesen Namen und somit unsere Bestimmung haben wir erst dort erfahren!) noch einmal umgestiegen. Wir hatten ein bis zwei Stunden Aufenthalt in der Bahnhofswirtschaft, wo ich vor üdigkeit auf einem Stuhl, auf den hinteren Stuhlbeinen gegen die Wand gelehnt, einschlief. Der Waggon im nächsten Zug war schon ganz besetzt mit Holländern und wir konnten uns nur auf den Boden hinsetzen im Gang neben den Kupees, wo ich bald wieder einschlief. Nach meinem Erwachen wurden uns von den sitzenden Holländern ihre Sitzplätze im Tausch gegen unsere ‚Bodenplätze’ angeboten, was wir dankbar annahmen. Bei Tageslicht passierten wir verschiedene kleinere Städte oder Ortschaften. Am Freitagnachmittag, dem 2. April also, kamen wir nach etwas Rangieren hier und da am Bahnhof Bietigheim an. Ich erinnere mich an einen ziemlich kurzen Weg zum Durchgangslager.”